Die katholische Kirche begleitet nicht nur das religiöse Leben der Gläubigen, sondern beeinflusst auch das weltliche Jahr und die Gesellschaft mehr, als uns oftmals bewusst ist. Kirchliche Feste markieren Höhepunkte im Jahreslauf. Sie prägen Brauchtum und Tradition, nehmen Einfluss darauf, ob wir zur Arbeit gehen oder frei haben, und wirken sich auf unser Konsumverhalten aus.
Autor: Gerhard Sengstschmid
Der Jahreskreislauf der katholischen Kirche ist wie ein stiller Taktgeber, der im Hintergrund läuft, selbst dort, wo der Glaube verblasst ist. Viele Menschen würden von sich sagen, sie sind nicht sehr religiös oder nur kulturell christlich. Trotzdem stehen sie zu Fronleichnam im Stau, backen zu Weihnachten Kekse, machen zu Ostern Brunch mit der Familie, starten „zwischen den Jahren“ ihren Jahresrückblick und sprechen ganz selbstverständlich von „Pfingstferien“. Und nicht nur das: Wir zelebrieren die Taufe, feiern Erstkommunion und Firmung als Familienfest, besuchen kirchliche Hochzeiten und geleiten Verstorbene auf ihrem letzten Weg bei Begräbnissen. All diese Ereignisse führen uns in die Kirche, auch wenn manche Menschen längst nicht mehr mit dem Glauben verbunden sind.
Der liturgische Jahreskreis, gepaart mit einem kirchlich geprägten Lebensverlauf, ist tief in der Zeitrechnung, in Kultur und Wirtschaft sowie in unserem persönlichen Lebensrhythmus verwurzelt. Er prägt nicht nur das Leben jedes einzelnen – auch wenn wir uns der religiösen Bedeutung nicht mehr bewusst sind – er beeinflusst auch das Geschehen in der Gemeinde. Prozessionen, Umzüge, Weihnachts- und Ostermärkte und dergleichen sind zwar mit etwas Aufwand verbunden, der sich aber allemal lohnt. Die Menschen kommen zusammen, Vereine bringen sich ein, und auch die Kirche kann sich präsentieren.
Der Jahreslauf ist von katholischen Festtagen und Feiern geprägt

Zeit ist nicht neutral. Wir strukturieren sie in Wochen, Monate, Jahre, wichtige Tage, Zwischenzeiten und „Hoch“-Zeiten. Der katholische Jahreskreis legt eine sehr bestimmte Deutung über das Jahr: Advent ist die Zeit der Erwartung, Weihnachten ist Ankunft, Geburt und Familie. Fastenzeit bedeutet Verzicht, Reflexion und Vorbereitung, Ostern bringt Krise, Tod und Neubeginn, Pfingsten steht für Aufbruch, Geist und Gemeinschaft. Dazwischen ist die „normale“ Zeit im Jahreskreis, sie ist quasi „der Alltag“, und gibt uns Stabilität. Auch wenn vielen die liturgischen Begriffe fremd geworden sind, die Emotionen sind geblieben. Der Herbst fühlt sich oft an wie eine zweite Neujahrsphase. Nach einer längeren Phase der Erholungs- und Urlaubszeit öffnen Schulen wieder ihre Tore, viele Projekte starten nach dem Sommer, das Leben – auch jenes in der Gemeinde – nimmt wieder Fahrt auf. Besonders in ländlichen Regionen wird im Herbst Erntedank gefeiert, zu Allerheiligen und Allerseelen gedenken wir den Verstorbenen und setzen uns mit unserer eigenen Vergänglichkeit auseinander. Vertreter von Kirche und Gemeinde halten Totengedenken und legen Kränze nieder. Der Frühling hingegen ist geprägt von Licht und Wachstum. Verstärkt wird dieses Empfinden durch das Osterfest. Nach der dunklen, „enthaltsamen“ Phase des Winters und der Fastenzeit hält Licht, Freude und Wiederbelebung Einzug. Wie man gut erkennen kann, leben wir nicht nur in einem meteorologischen oder wirtschaftlichen Zyklus, sondern auch in einem kulturell-religiösen, der unser Jahr beeinflusst. Dieser Einfluss macht auch vor den Vertreterinnen und Vertretern der Gemeindepolitik nicht halt. Im Laufe eines Kalenderjahres stehen viele Verpflichtungen und Veranstaltungen in den Terminkalendern: Eröffnung von Weihnachts- und Ostermärkten, der Besuch von kirchlichen Gedenkfeiern und Messen, Fronleichnamsprozessionen und Erntedankfeste, aber auch Begräbnisse oder Segnungen von Fahrzeugen und Einrichtungen gehören dazu.
Ohne Kirche gäbe es wenige Feiertage
Am offensichtlichsten wird der Einfluss der Kirche bei den gesetzlichen Feiertagen. Wir genießen es, zu Weihnachten, Ostern oder Pfingsten „frei“ zu haben. Schulen machen Ferien, viele Betriebe bleiben geschlossen, Familienzeit ist angesagt. Selbst Menschen, die mit der Kirche nichts zu tun haben, erleben diese Tage als Erholung im Arbeitsjahr. Oder wie der Autor Friedrich Hebbel so treffend formuliert: „Niemand ist so sehr Atheist, dass er nicht die christlichen Feiertage mitfeiern hülfe.“ Die Zeit für Arbeit und Erholung folgt also weiterhin einem religiös gefärbten Kalender. Unternehmen planen Umsätze, Schichten, Lieferketten und Marketingkampagnen entlang katholischer „Hoch“-Zeiten. Der Einzelhandel richtet sich nach Advent, Weihnachten und Ostern. Der Tourismus nutzt Ostern, Pfingsten, Weihnachten und Allerheiligen (Herbstferien!) als Reisezeit, denn die Schulferien sind oft an kirchliche Feste geknüpft. Dass alle gleichzeitig frei haben, ist keine natürliche Notwendigkeit, sondern Folge eines christlichen Kalenders. Andere religiöse Feste – etwa evangelische, muslimische oder jüdische – haben selten den gleichen rechtlichen Status. Das zeigt: Der katholische Kalender ist wie ein Rahmen, den alle, ob gläubig oder nicht, mitvollziehen müssen oder dürfen. Insgesamt haben elf der 13 gesetzlichen Feiertage in Österreich einen katholischen Hintergrund.
Rituale ohne Glauben, doch die Kultur bleibt als Träger
Vieles, was wir tun, ist längst von seiner religiösen Bedeutung losgelöst, hat aber als Ritual oder Brauchtum weiter Bestand in unserem täglichen Leben. Zu Weihnachten sind Christbaum, Geschenke, Lichterketten oder Weihnachtsmärkte gute Beispiele dafür. Vielfach steht nicht mehr die Geburt Jesu im Zentrum, sondern Gemütlichkeit, Familie oder die Magie der Weihnacht. Trotzdem sind das Datum, die Symbolik und der Grundrhythmus eindeutig christlich geprägt. Gleiches gilt für Ostern: Ostereier, Osterhase, Osterbrunch. Die ursprüngliche Symbolik von Leben, Auferstehung und Neubeginn ist weitgehend säkularisiert. Und dennoch feiern wir zu Ostern, und nicht zufällig irgendwann im Frühling. Die Fastenzeit wird für Detox-Kuren oder Challenges genutzt. Verzichtet wird mit viel Phantasie: Social-Media-Fasten, Zuckerfasten, Alkoholpause. Oft ist der Antrieb dahinter ein rein gesundheitlicher oder psychologischer. Aber der Zeitraum orientiert sich immer noch am katholischen Kalender: von Aschermittwoch bis Ostern. Selbst wer nicht mehr weiß, was Aschermittwoch liturgisch bedeutet, folgt dem kollektiv vertrauten Zeitraum und beschließt: Jetzt verzichten, danach wieder genießen. All diese Rituale erfüllen heute andere Funktionen. Mit der Art, wie wir feiern, zeigen wir, woher wir kommen und wohin wir gehören. Die Bräuche rund um kirchliche Feiertage stärken auch die Familienzusammengehörigkeit, denn es gibt so regelmäßige Anlässe, zusammenzukommen. Der Glaube mag bröckeln, die Rituale bleiben und wirken weiter.
Brauchtum als Kontaktzone von Kirche und Gesellschaft
Brauchtum ist für viele Menschen eine niederschwellige Möglichkeit, kirchliche Feste mitzufeiern und als Brauchtum weiterzutragen. Nikolaus, Erntedank, Martinsumzüge, das Fest zum Heiligen Leopold und vieles mehr kann mitgefeiert werden, ohne ein „Insider“ zu sein. Parameter wie Gemeinschaft, Stimmung oder gutes Essen treten dabei in den Vordergrund. Brauchtum verbindet. Gut zu beobachten ist das zu Fronleichnam. Prozessionen ziehen durch die Straßen. Die Kirche geht buchstäblich hinaus zu den Menschen, Blasmusikvereine umrahmen die Umzüge musikalisch, Gemeindevertreter finden sich oftmals in den vorderen Reihen. Kirche und Gemeinde erleben sich als Einheit. Oder auch Sternsinger-Aktionen zu Heiligen Drei Königen. Sie sind in vielen Gemeinden eine Mischung aus Liturgie, sozialem Engagement und Kinder- und Jugendarbeit. Nicht selten finden sich in Sternsinger-Gruppen der Bürgermeister oder auch der Pfarrer eines Dorfes. Was wir als „österreichisches Brauchtum“ erleben, ist in vielen Fällen direkt aus den Festen der katholischen Kirche hervorgegangen. Vor Ostern werden Palmbuschen gebunden, Kinder gehen am Karfreitag mit Ratschen durch den Ort. In der Zeit vor Weihnachten binden wir Adventkränze, öffnen Türchen am Adventkalender und besuchen Weihnachtsmärkte. Hier treffen wir oftmals auf Perchtenläufe, die den Besuch von Nikolaus und Krampus abgelöst haben. Brauchtum erzeugt ein „Wir-Gefühl“. Bei Dorffesten mit Prozessionen, Pfarrkirtagen oder Wallfahrten zeigt sich die Kirche als Teil der lokalen Kultur, nicht nur als Anbieter einer Religion.
Die Kirche im Lebenslauf
Neben dem Jahreskreis gibt es aber auch einen zweiten Rhythmus: Den Lebenslauf eines Menschen, den die Kirche durch ihre Feste und Sakramente ebenfalls prägt. Auch hier gilt: Viele nehmen nur noch kulturell teil, aber die gesellschaftliche Wirkung ist enorm. Die Taufe gilt als Start ins offizielle Leben. Für viele Eltern ist sie nicht ein Bekenntnis zum Glauben, sondern vielmehr eine feierliche Begrüßung des neuen Erdenbürgers in der Familie. Die Erstkommunion ist in vielen Orten oder Gemeinden ein Highlight im Gemeinschaftsleben. Kinder im gleichen Alter, in weißen Kleidern oder kleinen Anzügen, feiern gemeinsam ein religiöses Fest, das im Gasthaus seinen Höhepunkt findet. Für die Kinder ist es oft eine Mischung aus religiösem Unterricht und dem Gefühl, endlich „groß“ zu sein. Die Firmung wiederum markiert den Übergang zur Selbstverantwortung. Viele Jugendliche, die wenig Bezug zur Kirche haben, lassen sich aus Tradition firmen, weil es eben so üblich ist, weil alle in der Gruppe oder im örtlichen Verein mit dabei sind. Die Kirche strukturiert unbemerkt Übergänge im Leben, die ähnliche Bedeutung haben wie Schulabschlüsse oder der 18. Geburtstag. Auch eine kirchliche Hochzeit steht nach wie vor hoch im Kurs, da sie für viele Paare das romantische Idealbild einer Eheschließung ist und eine enorme Symbolkraft hat. So prägt die Kirche auch diesen großen Tag und segnet eine Partnerschaft selbst dann, wenn sich die Beteiligten innerlich vom Glauben distanzieren. Im Tod zeigt sich der Einfluss der Kirche vielleicht am deutlichsten. Selbst Menschen, die seit Jahrzehnten nicht mehr in der Kirche waren, werden oft trotzdem mit kirchlichen Begräbnissen verabschiedet. Auch wer persönlich nicht glaubt, nimmt häufig teil, weil die kirchliche Form traditionell ist. Oftmals werden Beerdigungen zu einer Angelegenheit für den ganzen Ort. Neben der Kirche werden Organist, Chor, Bestatter und Florist engagiert, damit der letzte Weg zu einem würdigen wird. Die Kirche prägt damit ganz wesentlich, wie wir mit Sterben und Tod umgehen und welche Worte und Bilder wir dafür zur Verfügung haben.
Wirtschaft, Konsum und die „Saison der Heiligen“

Der Jahreszyklus und die Lebensfeste der Kirche haben heute auch einen starken ökonomischen Aspekt. Der Advent hat sich zur „Hoch“-Zeit des Konsums entwickelt. Ursprünglich die Zeit der Stille und Besinnung, ist er heute wirtschaftlich die umsatzstärkste Zeit im Jahr, gilt doch Weihnachten als ökonomischer Motor. Rabatte, Märkte, Weihnachtsfeiern, Jahresabschlussaktionen. Alles konzentriert sich in die liturgisch begründete Zeit. Zu Ostern dann die zweite große Konsumwelle: Schokolade, Reisen, Frühlingskollektionen. Die Wirtschaft arbeitet mit Symbolen, die einst religiös tief aufgeladen waren. Und auch „Lebensfeste“ haben eigene Märkte geschaffen: Tauf- und Kommunionskleider, Firmungsanzüge, Hochzeitsausstattung, Trauerfloristik. Um alle diese kirchlich gerahmten Anlässe herum haben sich spezialisierte Branchen entwickelt. Fotografen, Caterer, Modegeschäfte, Event-Locations. Sie alle leben auch von den kirchlich geprägten „Hoch“-Zeiten im Leben. Damit passiert etwas Paradoxes: Die kirchlichen Feste und die sakralen Lebensstationen werden zu Konsum- und Eventzeiten, bleiben aber gerade deswegen im gesellschaftlichen Bewusstsein präsent.
Warum uns der Einfluss der Kirche so wenig bewusst ist
Abschließend stellt sich die Frage, warum uns der Einfluss der Kirche auf unseren Alltag so wenig bewusst ist. Einer der Gründe ist wohl die Tatsache, dass für uns Religion etwas Privates ist, ein weiterer ist der Gewohnheitseffekt. Wir sind mit Weihnachten, Ostern, Taufe, Erstkommunion, Hochzeit und Begräbnis in kirchlicher Form aufgewachsen. Es ist für uns selbstverständlich. Wir sprechen aber vielfach nicht mehr von Glaube, sondern von Tradition, Brauchtum oder Kultur. Die religiösen Wurzeln verschwinden aus unserem Blick, der Eventgedanke, Geschenke und Kommerz dominieren. Hier eröffnet sich für Personen des öffentlichen Lebens die Gelegenheit, sich aktiv einzubringen und aufklärend zu wirken. Sich den Einfluss der Kirche bewusst zu machen, ist keine Aufforderung, wieder kirchlicher zu werden, sondern eine Möglichkeit, Dinge zu hinterfragen. Wenn wir Fragen stellen, nehmen wir den Einfluss des katholisch geprägten Jahres- und Lebenskreislaufs wahr und stärken zugleich die Freiheit, bewusst mitzugestalten, statt nur mitzuschwimmen.