Vom Generationenhaus bishin zum Seniorenwohnen – Wie innovative Modelle in Niederösterreich zeigen, dass gutes Altern in der Gemeinschaft beginnt.
Autor: Bernhard Steinböck
Pflegende Angehörige stoßen oft an ihre Grenzen. Stationäre Einrichtungen sind nicht immer die beste oder gewünschte Lösung. Und viele ältere Menschen wünschen sich vor allem eines: in ihrem gewohnten Wohnumfeld bleiben zu können – mit Würde, sozialem Anschluss und einer Form der Unterstützung, die sich nicht wie fremdbestimmte Pflege anfühlt. Viele niederösterreichische Gemeinden haben die Zeichen der Zeit erkannt und öffnen Schritt für Schritt neue Wege. Neue Pflege- und Betreuungsmodelle setzen dabei vor allem auf das, was auch in Zukunft tragfähig ist: auf Menschlichkeit und ein gelebtes Miteinander über die eigene Gemeindegrenze hinweg. Vier sehr unterschiedliche Projekte zeigen eindrucksvoll, wie nachhaltig dieser Weg sein kann.
Generationenhaus Ulmerfeld – von Freiwilligkeit, Verantwortung und einer gelebten Vision
Wenn Günter Kössl über sein Herzensprojekt spricht, spürt man schnell, dass hier jemand mit Überzeugung etwas bewegt hat. Das heutige Generationenhaus Ulmerfeld sei „über 30 Jahre lang ein

Gedanke gewesen, den ich in mir getragen habe“, sagt der frühere Nationalratsabgeordnete. Dieses Haus ist nun seit 2016 Wirklichkeit, und was Kössl dort mit Nachdruck und Durchhaltevermögen aufbauen konnte, ist weit mehr als ein betreutes Wohnen. 28 barrierefreie Wohnungen beherbergen Alt und Jung – bewusst durchmischt, bewusst mit dem Ziel, dass hier generationsübergreifend
gelebt, geholfen und mitgestaltet wird. Kössl: „Ich wollte kein Modell, das Menschen einfach nur versorgt. Ich wollte eines, in dem Menschen füreinander da sind. In dem Nachbarschaft kein leeres Wort ist, sondern gelebte Verantwortung.“ Das Herzstück des Hauses ist der Betreuungsverein, getragen von rund 25 bis 30 Ehrenamtlichen, vorwiegend aus der von ihm gerne genannten „gewonnenen Generation“ zwischen 55 und 75 Jahren. Sie übernehmen tageweise die Betreuung im Gemeinschaftsbereich, helfen bei Alltäglichem, organisieren Aktivitäten oder stehen einfach nur zum Plaudern bereit. Jeden Tag, das ganze Jahr über. „Das funktioniert nur, weil es Menschen gibt, die verstehen, dass man im Alter nicht einfach gepflegt, sondern menschlich begleitet werden möchte“, so Kössl. Besonders stolz ist er auf den Community-Gedanken: „Wir haben Preisschnapsen, gemeinsames Kochen, Gedächtnistraining. Ich war selbst lange jeden zweiten Tag vor Ort. Heute läuft vieles schon von allein – weil die Atmosphäre stimmt.“ Doch das Projekt kämpft auch mit Herausforderungen. Die Wohnungspreise seien in den letzten zehn Jahren stark gestiegen. „Was damals um 600 Euro zu mieten war, liegt jetzt bei rund 900 Euro. Da ist es wichtig, Instrumente wie einen Sozialfonds zu haben, um bei Notlagen helfen zu können.“ Ebenfalls entscheidend: die Auswahl der Mieterinnen und Mieter. „Ein Haus wie dieses funktioniert nur, wenn jene einziehen, die das Modell auch mittragen“, sagt Kössl. „Wir bauen hier keinen Wohnluxus für Privilegierte, sondern eine leistbare Gemeinschaft.“
Gemeinsam durch den Tag: Tageszentren als Antwort auf neue Lebensrealitäten

Wäre das Generationenhaus Ulmerfeld bei der auf Seite 7 beschriebenen Pflegekaskade noch unter Stufe 5 – dem Bedarf der alternativen Wohnformen – anzusiedeln, so setzt folgendes Beispiel ein wenig früher an: Altwerden zu Hause – das wünschen sich die meisten Menschen. Die Tageszentren in St. Georgen am Ybbsfeld und in Zeillern ermöglichen es Seniorinnen und Senioren, tagsüber betreut in Gemeinschaft zu leben – und danach in die vertraute Umgebung nach Hause zurückzukehren. „Wir wollten mehr sein als eine Betreuungseinrichtung. Wir wollten aktives Altern in der Gesellschaft ermöglichen und gleichzeitig die Bevölkerung mit diesem Thema sensibilisieren“, erzählt Karin Ebner, diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin und Leiterin beider Tageszentren. Ebner war von Anfang an impulsgebend tätig – die Idee der Tageszentren entstand 2012 gemeinsam mit der Kleinregion, um Betreuungslücken in der ländlichen Pflegeversorgung
zu schließen. „Viele Menschen leben in großen Häusern, allein, weit entfernt vom Familienverband. Und gleichzeitig fehlt es an Angeboten, die den Angehörigen Entlastung und den älteren Menschen Struktur geben“, so Ebner. Das Tageszentrum in St. Georgen war das erste seiner Art in der Region und wurde in enger Zusammenarbeit mit Gemeinde, Dorferneuerungsverein, Wirtschaft und dem Land NÖ aufgebaut. Heute wird es nicht nur zur Betreuung, sondern auch als Plattform der sozialen Teilhabe genutzt. „Bei uns hat sich etabliert, dass unsere Senioren im Tageszentrum das Besteck für Feste in Servietten wickeln. Zum Beispiel für die Feuerwehr oder Sportverein. Gesellschaft ist eine der wichtigsten Maßnahmen, um Demenz vorzubeugen. Sehr viele gemeinsame Aktionen mit Kindergärten und Volksschulen ermöglichen es auch den Kindern soziale Kompetenz zu lernen“, so Ebner. Auch Bürgermeister Friedrich Pallinger aus Zeillern ist vom Konzept überzeugt. Die Gemeinde eröffnete erst vergangenes Jahr das Tageszentrum – durch einen leerstehenden Mostheurigen wurde eine ideale Nachnutzung gefunden. „Begonnen haben wir mit zwei Betreuungstagen pro Woche – mittlerweile sind es drei, und nächstes Jahr kommt wohl ein vierter dazu“, so Pallinger. Mit dabei ist wieder Karin Ebner, die für beide Zentren hauptverantwortlich ist.
Mehrere Gemeinden teilen sich Verantwortung, Ressourcen und Wissen
Dass beide Einrichtungen unter derselben Leitung stehen, ist kein Zufall, sondern eine Stärke: Erfahrungen, Methoden und Abläufe wandern damit rasch von einem Ort zum anderen, ohne dass jede Kleinigkeit neu erfunden werden muss. Und genau hier liegt auch der Kern: Mehrere Gemeinden teilen sich Verantwortung, Ressourcen und Wissen – und schaffen ein Angebot, das für beide erreichbar bleibt. „Gemeinsam entwickeln wir Synergien“, erklärt der Bürgermeister. „Zu den Fahrtendiensten wird von einer Nachbargemeinde ein Emil (Anrufsammeltaxi) verwendet, andere bilden zum Teil wiederum Fahrgemeinschaften, um gemeinsam die Betreuungsstätte zu erreichen. Derzeit befinden sich solche Einrichtungen noch in einer Phase, wo man als Vorreiter gilt, da es noch nicht so viele Einrichtungen in der Umgebung gibt. Die Nachbargemeinde Wallsee-Sindelburg ist hier auch als Kooperationsgemeinde mit an Bord. Als Gemeinden haben wir eine finanzielle Unterstützung für diese Einrichtung gegeben. Natürlich werden Leistungen wie jene eines Steuerberaters zugekauft.“ Ebner ergänzt: „Die Gemeinden haben zu vielen Themen der Betreuung durch das Tageszentrum Ansprechpersonen und Experten vor Ort, es gibt interessante Vorträge bei den Seniorennachmittagen – und was mich dadurch am meisten freut: die Menschen rücken wieder enger zusammen. Angehörige, Gemeinde, Einrichtungen – jeder erkennt seinen Beitrag. So beginnt Gemeinschaftspflege.“
Seniorenwohnen: Selbstständig bleiben – mit punktueller Unterstützung
Zurück zu Stufe fünf der Pflegekaskade: „Daheim vor stationär“ – dieser Grundsatz bestimmt die Pflegezukunft in Niederösterreich, und das auch bei den Verantwortlichen auf Landesebene.
Mit dem Pilotprojekt „Seniorenwohnen“ setzt das Land Niederösterreich gezielt dort an, wo die Versorgung bisher dünn war: zwischen der mobilen Pflege zuhause und der stationären Aufnahme im Pflegeheim. Der Gedanke dahinter ist einfach und zugleich weitreichend. Viele ältere Menschen kommen im Alltag selbst gut zurecht, benötigen aber punktuell Unterstützung, Anleitung oder das Gefühl, dass in unmittelbarer Nähe jemand erreichbar ist. Genau dafür werden gemeinschaftliche Wohnverbünde geschaffen, die eigenständiges Wohnen mit verdichteten, niedrigschwelligen Betreuungsleistungen verbinden. „Mit der Entwicklung des neuen Seniorenwohnens gehen wir diesen Weg konsequent weiter und schaffen die Möglichkeit, durch ergänzende Pflege- und Betreuungskonzepte in bekannten Wohnformen für ältere Menschen, die Notwendigkeit einer Aufnahme in eine Pflegeeinrichtung, dem Wunsch der Niederösterreicher und Niederösterreicherinnen entsprechend, hintanzuhalten“, erklärt Sozial- Landesrätin Christiane Teschl-Hofmeister. Seniorenwohnen – das bedeutet, dass mehrere barrierefreie und betreuungsnahe Wohneinheiten in einem kompakten Verbund zusammengefasst sind – mit gemeinschaftlich genutzten Flächen und der Möglichkeit, hausnahe Pflegeleistungen in Anspruch zu nehmen. „Im Fokus unserer Pilotprojekte stehen die verdichtete Unterstützung und Begleitung von älteren Menschen durch qualifizierte Heimhilfen, der Sozialen Alltagsbegleitung und der Fachsozialbetreuer und
Fachsozialbetreuerinnen (Altenarbeit) in einem größeren gemeinschaftlichen Wohnverbund, der auch die soziale Interaktion fördert“, so die Landesrätin. Das Projekt startete bereits vor rund zwei Jahren. Seit dem Beschluss haben zwei Projekte den Betrieb aufgenommen – neben Maria Anzbach auch in Baden. Projekte im Wald-, Wein- und Mostviertel sind derzeit noch in der Umsetzungsphase. Vor kurzem wurden sechs weitere Standorte – verteilt über ganz Niederösterreich – finanziert und wissenschaftlich begleitet.
Pflege ist dann stark, wenn das Dorf mitträgt: „Sorgende Gemeinschaften“ als tragendes Modell der Zukunft

In der Kleinregion „Wir 5 im Wienerwald“ – bestehend aus den fünf Gemeinden Gablitz, Mauerbach, Tullnerbach, Purkersdorf und Wolfsgraben – wurde ein revolutionäres Modell ins Leben gerufen:die „Sorgende Gemeinschaft“. Hier denkt man Pflege nicht mehr als Dienstleistung, sondern als Beziehungsnetz. Alle Generationen, alle Institutionen und auch informelle Netzwerke wie Nachbarschaftshilfe und Ehrenamt arbeiten eng zusammen. „Wir schaffen ein Klima, in dem Hilfe nicht organisiert, sondern selbstverständlich wird“, so einer der ans Projekt beteiligten Akteure. In Workshops und Arbeitsgruppen werden vor Ort Bedarfe erhoben, Ressourcen identifiziert und gemeinsam Angebote entwickelt: Einkaufshilfen, Besuchsdienste, Unterstützung beim Ausfüllen von Formularen, Begleitung bei Arztbesuchen – unzählige kleine Beiträge, die in Summe einen großen Unterschied machen. Die Initiative, die ihr Hauptaugenmerk auf das Thema Einsamkeit legt, fördert soziale Nähe und beugt damit auch Pflegebedürftigkeit vor. Es entsteht ein Gefühl des füreinander Daseins, das in unserer Zeit so oft verloren geht. Eine Sorgende Gemeinschaft ist kein statisches Modell, sondern ein lebender Organismus. Jedes Dorf, jede Gemeinde hat andere Bedürfnisse – und auch andere Lösungen.
Pflege ist mehr als Versorgung – sie ist Beziehung
Ob das Generationenhaus in Ulmerfeld, die Tageszentren in St. Georgen und Zeillern, das Pilotmodell Seniorenwohnen oder die Sorgenden Gemeinschaften des Wienerwalds – die Botschaft ist so einfach wie anspruchsvoll zugleich: Pflege lebt von Nähe – und Nähe muss organisiert werden. Wer vorhandene Gebäude klug nutzt, regionale Partnerschaften pflegt, Ehrenamtliche gewinnt und professionelle Dienste verlässlicher macht, gestaltet Pflegepolitik auf der Höhe der Zeit.