“Inflationsraten werden sich zurückbilden”

Christian Helmenstein ist Chefökonom der Industriellenvereinigung. Im Interview mit der NÖ Gemeinde spricht er über die Wirtschaftslage, Reformvorschläge und Gemeindekooperationen.

Beitrag von Oswald Hicker

Vorab: Gemeindefinanzen sind immer von der Konjunktur abhängig. Wie wird sich die gesamtwirtschaftliche Situation in den kommenden Jahren entwickeln?
Helmenstein: Die österreichische Wirtschaft befindet sich derzeit in einer Rezession. Voraussichtlich wird die Wirtschaftsleistung im heurigen Jahr um bis zu ein Prozent schrumpfen. Sieht man von den beiden ökonomischen Großkrisen im Gefolge der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers und der COVID-19-Pandemie ab, handelt es sich um den kräftigsten konjunkturellen Rückgang seit dem Zweiten Weltkrieg. Für das kommende Jahr ist bestenfalls ab dem zweiten Quartal eine schwache zyklische Erholung zu erwarten, die sich bei günstigen internationalen Rahmenbedingungen im Folgejahr fortsetzen sollte, sofern weitere geopolitische und allfällige andere Negativschocks ausbleiben.

Wie sicher ist die Konjunkturprognose? Müssen wir uns vielleicht wieder auf unerwartete Dämpfer einstellen? Wo sind die Unsicherheitsfaktoren?
Ein erster wesentlicher Unsicherheitsfaktor liegt im Konsumverhalten. Wenn die privaten Haushalte die sich abzeichnenden Realeinkommenszuwächse, beispielsweise im Kontext der schon beschlossenen Pensionserhöhung um 9,7 Prozent, eher sparen als konsumieren, könnte die Erholung verspätet einsetzen oder auch gänzlich ausbleiben. Dies könnte insbesondere bei einer kräftigeren Eintrübung am Arbeitsmarkt aufgrund drastisch steigender Lohnstückkosten eintreten, was zu einer stärkeren Zunahme der Arbeitslosigkeit führen würde, sodass vermehrt Vorsichtssparen zu beobachten wäre. Ein zweites Unsicherheitsmoment erwächst aus der verhaltenen Wachstumsdynamik in China und in den USA. Während erstere erhebliche strukturelle Herausforderungen unter anderem am Immobilienmarkt, aber auch bei der privaten und öffentlichen Verschuldung widerspiegelt, ist letztere vor allem konjunkturell bedingt. Hier wirkt die entschlossene Geldpolitik der US Federal Reserve mit kräftig angehobenen Leitzinsen noch nach. Positive Impulse wären üblicherweise aus dem vor Präsidentschaftswahlen in den USA üblichen, politischen Konjunkturzyklus im nächsten Jahr zu erwarten. Allerdings könnte das anhaltende Ringen um ein rechtzeitiges Anheben der Schuldenobergrenze die fiskalischen Spielräume so eng begrenzen, dass ein solcher Impuls im kommenden Jahr nur schwach ausfallen oder vollständig ausbleiben würde.

Konkret zu den Gemeindefinanzen: Wie beurteilen Sie das vorliegende Ergebnis der FAG-Verhandlungen aus Gemeindesicht?
Die Finanzausgleichsverhandlungen fanden vor dem Hintergrund der sich weit öffnenden Schere einer enormen zusätzlichen Kostenbelastung der Gemeinden einerseits und einer sich abschwächenden wirtschaftlichen Dynamik andererseits statt. Dem haben die Finanzausgleichsverhandlungen in mehrfacher Hinsicht Rechnung getragen, indem Ländern und Gemeinden sowohl zusätzliche Mittel für strukturell bedingte Mehrausgaben bereitgestellt wurden, als auch konjunkturell und geldpolitisch bedingte Engpässe durch kurzfristig ansprechbare Mittel mit Rückzahlungsverpflichtung überbrückt werden können.

Viele Gemeinden sehen sich mit steigenden Anforderungen und Erwartungshaltungen konfrontiert, etwa bei der Kinderbetreuung. Bildet das Verhandlungsergebnis des Kommunalgipfels diese steigenden Aufwände adäquat ab?
Öffentliche Ausgaben für Bildungsinfrastruktur zahlen sich mit einer – allerdings zum Teil Jahrzehnte dauernden – Wirkungsverzögerung sowohl makroökonomisch, also gesamtwirtschaftlich, wie auch mikroökonomisch, also für das Individuum beziehungsweise den privaten Haushalt, aus. Sie sind essenzielle Voraussetzung für den Erhalt und den Ausbau des Wohlstandes im Land. Doch nicht nur das: Bildungsausgaben erzielen zusammen mit Ausgaben für Innovation, langfristig gesehen, die höchsten fiskalischen Umwegrentabilitäten überhaupt. In dieser Hinsicht wurde mit dem Zukunftsfonds ein richtungsweisendes Instrument geschaffen. Zugleich ist selbiger hinreichend flexibel gehalten, um neben der Bedeckung von Investitionsausgaben auch finanzielle Unterstützung bei laufenden Ausgaben zu bieten. Außerdem wurde die Werthaltigkeit des Zukunftsfonds dadurch abgesichert, dass seine Mittel mit der zu erwartenden Inflationsentwicklung höherdotiert werden.

Die Finanzausgleichsverhandlungen fanden vor dem Hintergrund der sich weit öffnenden Schere einer enormen zusätzlichen Kostenbelastung der Gemeinden einerseits und einer sich abschwächenden wirtschaftlichen Dynamik andererseits statt.

Für die Einwohner „versteckte“ Kostentreiber in den NÖ Gemeinden sind die Umlagen. Die Gemeinden finanzieren 50 Prozent der Krankenhäuser (NÖKAS), der Pflege (Sozialhilfeumlage) oder der Kinder- und Jugendwohlfahrt mit. Diese Umlagen steigen enorm. Wie gefährlich sind diese Kostentreiber langfristig?
Die Ausgaben für Gesundheit und Pflege steigen nicht proportional zur Wirtschaftskraft des Landes und dem Einkommen seiner Einwohnerinnen und Einwohner, sondern noch rascher. Dieser schon seit geraumer Zeit bestehende Zusammenhang wird sich in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich nicht ändern, denn Gesundheit ist ein sogenanntes „superiores Gut“, also ein Gut, welches bei einem zunehmenden Einkommen immer höhere Ausgabenanteile für sich beansprucht. Hinzu kommen medizintechnische und pharmazeutische Fortschritte sowie die erfreulicherweise nach wie vor steigende Lebenserwartung, welche die Ausgabendynamik im Gesundheits- und Pflegesektor zusätzlich befeuern.

Ist dieses System auf Dauer leistbar oder müssen grundlegende Reformen in diesem Bereich (Krankenanstalten, Pflegeeinrichtungen) angegangen werden, um das System finanzierbar zu halten? Wenn ja, was wären nötige Maßnahmen, die konkret umgesetzt gehören?
Um ein hohes Versorgungsniveau mit medizinischen und pflegebezogenen Leistungen aufrechterhalten zu können, ist ein breites Spektrum unterschiedlicher Maßnahmen erforderlich – je eher und rascher diese vorangetrieben werden, desto besser. Institutionelle Reformen wie die Schaffung der Niederösterreichischen Landesgesundheitsagentur stellen einen wesentlichen Schritt dar – hierdurch werden einerseits betriebliche Effizienzvorteile etwa im Einkauf oder in der Verwaltung gehoben, andererseits so viel Dezentralität und damit Nähe bei den Menschen wie möglich gewahrt. Ohne die Versorgungssicherheit und -qualität zu beeinträchtigen, sollte zukünftig verstärkt der Weg über Standortoptimierungen weiterverfolgt werden – es ist weder medizinisch noch ökonomisch sinnvoll, das gesamte Spektrum medizinischer Leistungen an jedem Standort anzubieten. Vielversprechend ist darüber hinaus die intensive Nutzung von Digitaltechnologie, angefangen mit ihrem Einsatz bei bildgebenden Verfahren bis zur Entlastung von Pflegekräften durch Reinigungsroboter und Exoskelette. Darüber hinaus bedarf es in Österreich nicht zuletzt wesentlich verstärkter präventiver Ansätze, beispielsweise durch tägliche Bewegungseinheiten, um die therapeutischen Kosten hintanzuhalten.

“Es ist weder medizinisch noch ökonomisch sinnvoll, das gesamte Spektrum medizinischer Leistungen an jedem Standort anzubieten.”

Investitionen von Gemeinden werden in Zukunft aufgrund der Steigerung der laufenden Kosten nicht einfacher. Aber auch die Teuerung, etwa bei Baustoffen, schlägt bei Projekten zu Buche. Wie wird sich die Teuerung entwickeln?
Die Inflationsraten werden sich während der kommenden zwei Jahre substanziell zurückbilden unter der Voraussetzung, dass die Europäische Zentralbank dem ihr aufgetragenen geldpolitischen Primat der Wahrung der Preisniveaustabilität gebührende Aufmerksamkeit widmet.

Gemeindeinvestitionen sind auch ein maßgeblicher Faktor für die Konjunktur. Wie würde sich ein Projektstopp der Gemeinden auf die Konjunktur auswirken?
Für einen sich selbst tragenden, länger anhaltenden Aufschwung bedarf es wesentlich einer Investitionskomponente, sowohl von öffentlicher als auch privater Seite. Ohne eine solche Investitionsperspektive wäre ein nachhaltiger Aufschwung Fiktion.

Für einen sich selbst tragenden, länger anhaltenden Aufschwung bedarf es wesentlich einer Investitionskomponente, sowohl von öffentlicher als auch privater Seite.

Wie stark ist der Hebel „Kooperation“ von Gemeinden, etwa durch Gründung von Gebührenverbänden, gemeinsamen Bauhöfen etc.?
Das Economica Institut berechnet alljährlich als einzige Einrichtung in Österreich das sogenannte Bruttolokalprodukt aller 2.093 Städte und Gemeinden Österreichs, dementsprechend auch von sämtlichen 573 Städten und Gemeinden Niederösterreichs. Dabei zeigen sich enorme Unterschiede in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit selbst zueinander unmittelbar benachbarter Gemeinden. Hinzu kommt, dass die überwiegende Mehrheit der Gemeinden eine betriebswirtschaftlich unterkritische Größe aufweist. Beide Befunde legen gemeindeübergreifende Entwicklungsstrategien nahe, mit denen sich die betreffenden Gemeinden zugleich von der Ausrichtung anderer Gemeinden und Teilregionen unterscheiden können. Eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg einer solchen regional differenzierenden Entwicklungsstrategie möge jedoch keinesfalls unerwähnt bleiben: Eine einmal beschlossene inhaltliche Ausrichtung beispielsweise als Industriestandort, als Tourismusgemeinde oder als Logistik-Hub ist partei- und legislaturperiodenübergreifend für mindestens 15, eher 20 Jahre durchzuhalten. Dementsprechend braucht es vorab eine starke lokale Konsensfindung, um als Gemeinde oder als Gemeindekooperation erfolgreich zu sein.

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